Projektion in der Liebe: Warum dich die eine Eigenschaft deiner Beziehungsperson so rasend macht
- Marleen Theißen

- 15. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
Kennst du das Gefühl, dass dich eine bestimmte Eigenschaft deiner Beziehungsperson völlig aus der Fassung bringt? Vielleicht ist es das ständige Zuspätkommen, die übertriebene Vorsicht oder impulsive Entscheidungen. Und du fragst dich: Warum löst ausgerechnet dieser Teil an dem Menschen, den ich liebe, so starken Ärger in mir aus?
Als Paartherapeutin begegne ich dieser Dynamik häufig. Die Ablehnung einzelner Eigenschaften der anderen Person kann das Zusammenleben massiv belasten. Doch zu verstehen, was wirklich dahintersteckt, ist zwar unbequem – aber letztlich zutiefst befreiend.
Denn das, was uns am meisten an unserem Gegenüber stört, ist oft ein Anteil in uns selbst, den wir ablehnen oder nicht akzeptieren wollen. Genau darin liegt der Kern des psychologischen Prinzips der Projektion, um das es heute geht.

Das Paradoxon der Liebe: Von der Anziehung zur Abstoßung
Bevor wir tiefer in die Mechanismen der Projektion eintauchen, lohnt sich ein Blick auf ein grundlegendes Dilemma, das fast jede Beziehung durchläuft: das Paradoxon der Liebe.
Am Anfang einer Partnerschaft fühlen wir uns – meist unbewusst – zu Eigenschaften hingezogen, die uns selbst fehlen oder die wir uns insgeheim wünschen, uns aber nicht erlauben. Ein paar typische Beispiele:
Du bist spontan und lässt vieles auf dich zukommen; er/sie dagegen plant gerne und schafft Struktur. Diese Verlässlichkeit gibt dir Sicherheit.
Du bist sehr gewissenhaft und kontrolliert; er/sie ist eher tollpatschig und nimmt Dinge leichter. Genau das findest du anfangs charmant und es bringt dich oft zum Lachen.
Doch genau diese Eigenschaften, die euch zu Beginn verbinden, können später zu Reibung führen: Der charmante Tollpatsch wirkt plötzlich unzuverlässig. Die strukturierte Person, die dir Halt gab, fühlt sich nun wie ein Korsett an, das deine Freiheit einschränkt.
Dieses Paradoxon markiert den Übergang von der Verliebtheit zur Desillusionierung – der Phase, in der die rosarote Brille fällt und Projektion beginnt.
Die Beziehungsperson als Spiegel: Die Macht der Projektion in der Liebe
Projektion, auch in der Liebe, ist ein unbewusster Abwehrmechanismus: Wir übertragen Anteile von uns selbst, die wir nicht sehen, nicht fühlen oder nicht akzeptieren wollen, auf unsere Beziehungsperson.
Diese Anteile wurden in uns oft schon früh abgelehnt oder verdrängt – weil wir gelernt haben, dass sie „nicht richtig“ oder „zu viel“ seien. Es scheint leichter, das Unangenehme in anderen zu erkennen als in uns selbst.
Das Muster dahinter ist erstaunlich zuverlässig: Das, was dich am anderen am stärksten aufregt, spiegelt einen abgelehnten Anteil in dir selbst.
Wenn dich seine/ihre Chaotik nervt: Könnte es sein, dass du selbst einen hohen Anspruch an Perfektion hast – und Angst davor, die Kontrolle zu verlieren?
Wenn dich seine/ihre Ängstlichkeit belastet: Hast du vielleicht deine eigenen Ängste so tief verdrängt, dass du sie bei anderen kaum ertragen kannst?
Projektion lässt uns den anderen in einem verzerrten Licht sehen – und gleichzeitig übersehen wir, dass wir in Wahrheit vor etwas in uns selbst davonlaufen.
Projektion im Jetzt: Wenn Blind Spots unser Denken lenken
Projektion entsteht nicht nur aus Kindheitsprägungen oder alten Verletzungen. Sie kann genauso gut im Hier und Jetzt entstehen – aus blinden Flecken, aktuellen Unsicherheiten oder Selbstbildern, die wir nicht bewusst wahrnehmen wollen.
Manchmal triggert uns ein Verhalten des Gegenübers unverhältnismäßig stark, obwohl wir es selbst genauso tun – nur dass wir es bei uns verharmlosen oder gar nicht erst bemerken.
Beispiele:
Wenn dich verletzt, dass dein Partner etwas Wichtiges für dich vergisst: Vielleicht vergisst du selbst gelegentlich Dinge, willst das aber nicht wahrhaben.
Wenn du übermäßig empfindlich darauf reagierst, dass dein Partner dich unterbricht: Vielleicht fällt dir auf, dass du selbst – etwa in Gesprächen mit deiner Mutter – häufig unterbrichst, weil du sonst nicht zu Wort kommst.
Wenn du unsicher mit deinem eigenen Äußeren bist: Kann es sein, dass du das Aussehen deines Gegenübers stärker bewertest als üblich?
Diese Form der Projektion hat also nicht zwingend etwas mit Vergangenheit zu tun. Sie zeigt vielmehr, wie präzise wir auf Anteile reagieren, die wir im Moment nicht sehen oder akzeptieren wollen – und wie schnell wir sie stattdessen im anderen erkennen.
„Wann bin ich auch so?“ – Die Frage, die alles verändert
Um diese inneren Blind Spots aufzudecken, hilft eine einzige, ehrliche Frage: „Wann bin ich auch so?“
Diese Frage verschiebt die Perspektive. Sie nimmt dem Gegenüber die Rolle des „Problems“ und führt dich zurück zu dir selbst. Wenn du erkennst, welchen Anteil du in eine Dynamik einbringst, verliert der andere seine Funktion als Projektionsfläche und wird wieder zu einem Menschen mit eigenen Grenzen, Eigenheiten und Bedürfnissen.
So entsteht Raum für Verständnis statt Schuldzuweisung – und aus Distanz kann wieder Nähe werden.
Projektion auflösen: Den abgelehnten Teil integrieren
Der Weg zur Veränderung führt nicht über die Veränderung deines/deiner Partner:in, sondern über ein klareres Verständnis deiner eigenen emotionalen Reaktionen.
1. Bewusstsein und Innehalten
Nimm starke emotionale Reaktionen (Wut, Scham, Ablehnung) als Zeichen dafür wahr, dass ein innerer Anteil berührt wird. Halte inne und frage dich: „Was hat das, was mich gerade aufregt, mit mir zu tun?“
2. Den Anteil zurücknehmen
Erlaube dir, die Möglichkeit zu prüfen, dass das Verhalten des anderen auch etwas mit dir selbst zu tun hat. Verantwortung bedeutet hier nicht Schuld – sondern Bewusstheit.
3. Aus der Ich-Perspektive sprechen
Statt Kritik zu äußern, teile deine innere Erfahrung:
Statt: „Du bist so unordentlich!“ Lieber: „Ich merke, dass mich das unruhig macht. Ich habe selbst Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.“
Wenn wir erkennen, dass die Abwehr eines Teils des anderen in Wahrheit die Abwehr eines Teils von uns selbst ist, verwandelt sich der Partner von einem Trigger zu einem Spiegel – und schließlich zu einem Wegbegleiter für unser persönliches Wachstum.
Projektion in Beziehungen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Einladung zur Selbsterkenntnis. Je klarer wir unsere eigenen Anteile erkennen, desto freier und liebevoller können wir mit unserem Gegenüber sein.
Wenn wir aufhören, den anderen für unsere inneren Schatten verantwortlich zu machen, entsteht Raum für echte Verbindung, Authentizität und Nähe.
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